Ehrlich gesagt hatte ich eigentlich keine klare Vorstellungen von den unvorstellbar gewaltigen, alles bisher Gesehene bei weitem übersteigende, Dimensionen dieses Gebirges. Allein schon der dreiwöchige Anmarsch durch extrem unterschiedliche geographische, soziale, ethnische, kulturelle und klimatische Zonen Nepals war ein emotionales Wechselbad sondersgleichen.
Drei aus der Expeditionsmannschaft – Hubert Hillmayer, Sepp Mack und ich – durften als Vorausmannschft eine Woche früher losmarschieren um die französische
Partnermannschaft um den damals schon so legendären wie arroganten Pierre Mazaud beim vorbereiten der Route durch den Khumbu-Eisfall zu unterstützen. Unterwegs schloß sich uns dann auch noch ein gemütlich älterer Herr mit österreichischem Dialekt, gelichtetem Haar und kleinem Ränzlein an. Erst als er sich dann vorstellte, dämmerte uns wer da mit uns unterwegs sein wollte. Kein Geringerer als der schon damals legendäre Kurt Diemberger, leibhaftiger Achttausender- Erstbegeher und schon auf Achttausendern gestanden als wir das Wort noch nicht einmal richtig buchstabieren konnten! Am Everest hat er uns dann gezeigt warum er ein so erfolgreicher Bergsteiger war!
Im BaseCamp (5.500m.ü.NN) auf dem Khumbu Gletscher am Fuß des Khumbu-Eisfalls angekommen, hatten natürlich die französischen Freunde schon die besten Plätze besetzt. Wir mußten uns mühsam einigermaßen ebene Zeltplätze aus dem Gletschereis hacken und von Felsschutt freiräumen. Die dünne Luft machte sich schon hier richtig bemerkbar. Hacken, hacken, Luft schnappen. Hacken, hacken…usw. An diesen Rhythmus mußten wir uns erst gewöhnen, diese Arbeit trug aber viel zu unserer Akklimatisation bei. Am übernächsten Tag begannen wir zusammen mit den Franzosen die Versicherungsarbeit im Eisfall. Fixseile für das spätere auf und ab des Materialtransportes mußten gelegt, Gletscherspalten mit Leitern überbrückt und kürzere senkrechte Eismauern überwunden werden.
Die Franzosen hatten zu dieser Zeit noch nicht allzuviel geschafft, auch wenn dies später, als es um die Verteilung des Ruhmes ging, vor allem von Pierre Mazaud anders behauptet wurde. Sämtliche Ausrüstung, inclusive der langen Leitern, mußte von uns selbst geschleppt werden. Die vom Expeditionsleiter angeheuerten wenigen 8 oder 9 Sherpa’s (bei 17 Gipfelaspiranten) waren noch beim Haupttrupp.
Sepp Mack ragte dann auch hier heraus. Immer wieder hat er den Eisbruch mit 30-kg-Lasten durchstiegen. Ein krasser Gegensatz zu den heutigen Verhältnissen am Everest, wo ja fast noch der Teilnehmer-Hintern vom Leibsherpa der üppig zahlenden aber weitgehend unfähigen Kunden geputzt werden muß. 1978 war der Everest noch eine absolute Herausforderung auch für Spitzenbergsteiger. Vor uns hatten erst so um die sechzig bis fünfundsechzig(!) BergsteigerInnen den Gipfel erreicht und auch den Abstieg überlebt. Fast so viele (bzw. mehr als, je nach Zählweise) sind bis dahin bei ihrem unglücklichen Besteigungsversuch gestorben.
Als dann unsere Hauptmannschaft unter der Leitung von Sigi Hupfauer nach unsäglichen logistischen Schwierigkeiten ankommt – wir sind mitten im Monsunregen anmarschiert – kann sofort über den inzwischen präparierten Khumbu-Eisfall das erforderliche Material zum Western Cwm (Tal des Schweigens) hinaufgeschafft werden, wiederum mit sehr viel Einsatz aller TeilnehmerInnen inclusive der starken Hilfe unserer Sherpa (inzwischen -Freunde).
Von Mitte August bis Mitte Oktober 1978 leben wir ausschließlich auf Eis und Schnee. Der Khumbu Gletscher wurde vorübergehend zu unserer Heimat. Eisschlag, Schneesturm, Lawinen, extrem breite und tiefe Spalten sind unsere täglichen Begleiter. Nur langsam gewöhnen wir uns an die „dünne“ Luft.
Genau genommen bestand eine Everest-Besteigung damals hauptsächlich aus Lastenschleppen im endlosen auf und ab. Zuerst durch das Spalten-Chaos des Khumbu-Eisfalls, hinein in das Western Cwm zum Fuße der Lhotse-Südflanke und über diese hinauf zum Südsattel.
Irgendwann fingen wir an uns auszumalen wie es denn wäre, jetzt in einer Kaiser- Karwendel- Montblanc- Dolomiten- Wand warmen Fels zu spüren und später bei einem Glas „Roten“ über diese eben durchkletterten oder zukünftig noch zu durchkletternden Schönheiten zu schwärmen.
Die Everest- Besteigung verlor zunehmend den Reiz des Neuen und wich der stumpfen Routine. Echte bergsteigerische Herausforderungen wie wir sie aus den Alpen gewohnt waren, sind ja am Everest-Normalweg nicht vorhanden. Auch der Sinn für die natürlich nach wie vor stetig latent vorhandene Gefährdung durch Spaltensturz, Eisschlag, Lawinen, ging mit der Zeit verloren.
Selbst als ein Riesenteil des Eisbruchs über Nacht in sich zusammensackte, unsere Fixseile und Leitern in sich begrub und damit die Aufstiegsroute eine Zeitlang unbrauchbar machte, war das nur ein kurzer Aufreger. Es war ja niemand zu Schaden gekommen. Was eigentlich alles hätte passieren können, hat das dramatische Sherpa-Unglück Anfang des Jahres 2014 deutlich gezeigt. Was passieren könnte wußten wir nur zu gut. Wir haben das alles damals verdrängt und machten uns einen Spaß daraus, im Khumbu Eisfall bei Neuschnee möglichst lange Rutschpartien vorbei an Spalten und Seracs zu finden.
Als Sigi und ich einmal für zehn Tage durch andauernden Schnefall und Schneesturm im Lager zwei im Western Cwm abgeschnitten waren, konnten wir immer wieder morgens feststellen daß in der Nacht Lawinen aus der Nuptse-Ostflanke oder aus der Everest Süd-West-Flanke bis auf wenige Meter vor unser Zelt gerauscht waren. Im Lager I mußten Zeltbewohner irgendwann feststellen, dass sich direkt unter ihrem Zelt eine nicht gerade kleine Spalte aufgetan hatte.
Es gab viele solcher Gefährdungssignale. Sie wurden für uns alltäglich und konnten damit ignoriert, sprich verdrängt, werden. Erst nach dem Gipfel, zurück im BaseCamp brach dann die ganze mittlerweile angestaute Anspannung in sich zusammen.
Es war schön, mutterseelenallein auf dem Gipfel des höchsten Berges der Welt zu stehen. Fast wie ein Astronaut die Welt ringsum von oben zu sehen. Überwiegt hat aber doch das Gefühl, die ganze Plackerei endlich hinter mir zu haben, Hämorriden und Durchfall zu vergessen und die Freude, bald wieder grüne Wiesen zu sehen.